Die aktuelle Situation wirkt sich auch auf unsere psychische Gesundheit aus. Psychotherapeutin Yvik Adler über den Ansturm auf die Psychotherapie-Praxen, den Corona-Blues und Tipps, wie man diese anspruchsvolle Zeit seelisch gut übersteht.
Ab dem Frühsommer erlebten wir Psychologinnen und Psychotherapeuten einen Ansturm an Anfragen, wie wir es noch nie erlebt hatten. Noch jetzt können wir uns vor Anfragen kaum retten. Wir wissen nicht, wie wir sie bewältigen sollen. Täglich muss ich drei neue Patienten ablehnen.
Unsere Gesellschaft ist zurzeit von viel Sorge gekennzeichnet, viele Menschen sind niedergeschlagen und leiden unter der Unklarheit, wie alles weitergehen soll. Die fehlende Perspektive ist für den Menschen schwer zu ertragen.
Im ersten Lockdown haben sich viele Menschen gemeldet, die neu an Angsterkrankungen leiden, die sie bis zum heutigen Tag begleiten.
Menschen zwischen 12 und 72 Jahren. Dazu gehören Menschen, bei denen die Angst im Vordergrund steht. Sie fürchten sich sehr stark davor, am Virus zu erkranken. Das Virus lähmt ihr ganzes Leben.
Andere wiederum haben Symptome einer Depression. Seit Herbstbeginn erleben wir Therapeuten hier einen massiven Anstieg. Die Menschen leiden unter Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Existenzsorgen.
Dann gibt es aber auch jene, die sich der aktuellen Situation völlig ausgeliefert fühlen und auch wütend sind. Sie sind angespannt und gereizt. Die Corona-Krise und die sich stetig ändernden Massnahmen setzen ihnen zu und ermüdet sie. Vieles, was für sie wichtig war, ist nicht mehr möglich. Das ist nicht einfach. In letzter Zeit melden sich tendenziell jüngere Menschen bei mir und suchen nach Hilfe.
Jugendliche und junge Menschen brauchen den Kontakt zu Gleichaltrigen für ihre persönliche und soziale Entwicklung. Für viele von ihnen findet die Bildung inzwischen nur noch online statt. Das kann belastend sein. Isolation und Eintönigkeit vertragen junge Menschen besonders schlecht.
Wir Menschen sind Herdentiere. Wir brauchen sozialen Kontakt, Berührungen und Austausch, um uns wohl zu fühlen. Virtuell kann man vieles auffangen, aber gewiss nicht alles.
Viele Paare und Familien stecken im Dichtestress, weil Nähe und Distanz durch die Kontaktbeschränkung schwerer regulierbar sind. Das kann Konflikte verschärfen. Der Stresspegel ist hoch, wenn man im Homeoffice ist und gleichzeitig Kinder betreut. Familien, die bereits vor der Pandemie in schwierigen Verhältnissen lebten, leiden stark. Die Einsamkeit wirkt sich bei solchen Eltern und Kindern besonders negativ auf das Zusammenleben aus.
Ich habe zurzeit viele Paare, die von Trennungen sprechen oder sich gerade trennen.
Nein, die Kinder selbst melden sich nicht. Es sind ihre Eltern, die sich melden, weil sie in Bezug auf ihre Kinder nicht mehr weiterwissen und überfordert sind. Die Kinder zeigen Stresssymptome, sind verunsichert, einige verweigern sogar die Schule. Kinder belastet die Covid-19-Krise noch mehr als uns Erwachsene.
Den einen macht es nicht viel aus, sich etwas zurückzuziehen. Sie kommen mit der Situation bestens zurecht. Andere wiederum leiden enorm unter der Einsamkeit. Einige unter ihnen sagen sogar: «Hey, ihr könnt mich nicht einfach so einsperren. Ich gehe jetzt trotzdem raus einkaufen.» Es ist eine schwierige und belastende Situation für diese Menschen.
Wie sich die soziale Distanz gesellschaftlich auswirkt, wird sich zeigen. Tatsache ist: In einer Krise rückt man eigentlich näher zusammen und sucht vermehrt den sozialen Zusammenhalt. Gerade das muss aus virologischer Sicht vermieden werden. Ein Dilemma. Umso wichtiger ist es, sich sozial weiterhin einander zuzuwenden.
Man soll weiterhin möglichst viel in Kontakt mit seinem Umfeld bleiben. Telefonieren, schreiben, Videoanrufe machen, zu zweit und mit Abstand spazieren gehen. Sich im Rahmen des Möglichen sozial engagieren und aktiv bleiben. Für unsere Psyche ist es nicht gesund, sich ganz zurückziehen.
Man weiss etwa, dass der Alkoholkonsum bei Menschen mit einer gewissen Vorbelastung zugenommen hat. Das Umfeld von Menschen mit einem Alkoholproblem sollte hier aufmerksam sein und sofort reagieren, wenn es nötig ist. Suchtkranke Menschen holen sich meist nicht von selbst Hilfe. Man kann bei einer Beratungsstelle anrufen oder diese mit der betroffenen Person vor Ort besuchen.
Bei bereits belastenden Familien ist die Zunahme häuslicher Gewalt, auch gegenüber Kindern, aktuell ein Problem. Diese Familien müssen unbedingt weiterhin von den unterschiedlichen Einrichtungen Unterstützung erfahren und dürfen auf keinen Fall alleingelassen werden.
Sie sollen möglichst aktiv bleiben. Es ist wichtig, nicht in eine Art von Lähmung zu verfallen. Man soll versuchen, den Alltag aktiv zu gestalten. Also für eine klare Tagesstruktur mit Pflicht- und Spasszeiten sorgen und für etwas Abwechslung: rausgehen, telefonieren, Film schauen, kreativ sein. Bewegung ist enorm wichtig. Sie hilft, gesund zu bleiben und wirkt sich positiv auf die Stimmung aus.
Man soll zudem nicht zu viele Medien konsumieren. Vor allem nicht solche, die eigene Sorgen zusätzlich verstärken. Wichtig ist, sich selbst auch Hoffnung zu geben und sich vor Augen führen: Das Ganze geht irgendwann vorbei.
Absolut. Es ist wichtig, sich zu beruhigen und sich zu sagen: Ich habe schon schwierigere Situationen gemeistert, ich habe schon anderes überstanden. Man soll überlegen, was einem in einer anderen Krisensituation geholfen hat. Vielleicht sind Entspannungsübungen hilfreich oder Yoga. Es gibt unzählige Online-Angebote. Auch Internetseiten wie Dureschnufe.ch schaffen Abhilfe, die Situation zu überbrücken.
Wenn man weiterhin viele Ängste hat, sich wahnsinnig schlecht fühlt, nicht gut schläft, immer angespannt ist oder sogar Suizidgedanken hat, soll man unbedingt in seinem Umfeld Hilfe suchen. Und wenn auch das nicht reicht, sofort professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.
Ja, unbedingt. Man soll aktiv werden, wenn man das Gefühl hat, es könnte gefährlich werden. In jedem Kanton gibt es ein Notfallangebot, meistens einen psychiatrischen Notfalldienst, den man rund um die Uhr kontaktieren kann. Das sollte man lieber einmal zu viel als zu wenig tun.
Unsere Gesundheitsberaterinnen und -berater liefern Ihnen hilfreiche Tipps, wie Sie Ihrer psychischen Gesundheit Sorge tragen können.
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Yvik Adler ist Fachpsychologin für Psychotherapie mit eigener Praxis in Solothurn und Co-Präsidentin der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP.