Thierry Carrel ist Professor und Direktor der Herz- und Gefässchirurgie des Inselspitals Bern und Co-Chefarzt der Herzchirurgie an der Hirslanden-Klinik Aarau. Er erzählt, weshalb er Herzchirurg geworden ist, wo die Schweiz betreffend Herz-Kreislauf-Forschung steht und welche Rolle die Psyche bei der Behandlung von Herz-Kreislauf-Problemen spielt.
Thierry Carrel ist Professor und Direktor der Herz- und Gefässchirurgie des Inselspitals Bern und Co-Chefarzt der Herzchirurgie an der Hirslanden-Klinik Aarau.
Das Herz ist ein extrem spannendes Organ, 350 lebenswichtige Gramm. Im Operationssaal ist das Herz allerdings ein Organ wie jedes andere, bei dem vieles repariert oder rekonstruiert werden kann. Dabei muss es schnell vorwärts gehen. Während der Operation ist kein Platz für Emotionen oder philosophische Gedanken.
Die Symbolik des Herzens ist faszinierend und über Generationen und Zivilisationen gewachsen. Interessant ist, dass man das Herz offenbar bewusster spürt als die Lunge zum Beispiel, obwohl man doch ständig atmet und den Atem auch direkt spürt. Aber das Herz spürt der Mensch auf ganz besondere Art und es ist nicht zuletzt auch religiös geprägt. Jene aber, die das Herz als Sitz der Seele sehen möchten, muss ich leider enttäuschen: Bei meinen vielen Herzoperationen bin ich bisher noch keiner Seele begegnet. Aber eben, die Seele soll unsichtbar sein.
Ich darf täglich Herzen stilllegen, leeren und öffnen. Das ist für mich zwar Routine, entspricht aber schon einem Kunststück. Im Herzen können wir abgenützte Klappen ersetzen oder rekonstruieren. Nach der Operation geht es den Patienten meistens schnell wieder besser und ihre Lebenserwartung ist danach deutlich verlängert. Das ist in vielen anderen Sparten der Chirurgie nicht so. Einem Baby durch eine Herzoperation das Leben zu ermöglichen, sodass es vielleicht 80 Jahre lang ein gesundes Leben führen kann, ist für alle Beteiligten ein wunderbares Erlebnis.
Dass ich ausgerechnet Herzchirurg geworden bin und nicht Allgemeinchirurg oder Orthopäde, hat auch ein bisschen mit Zufall zu tun. Die Chirurgie hat mich schon während dem Studium fasziniert. Es stellt für mich ein ideales Zusammenspiel von manueller Tätigkeit, intellektuellen Überlegungen und Einsatz von Spitzentechnologien dar. Ich muss auf eine Operation gut vorbereitet sein, im Voraus Lösungen entwickeln, Umwege kennen, falls Komplikationen auftreten. Der technologische Fortschritt ist enorm, stellt uns aber gleichzeitig vor grosse Herausforderungen.
Die Technologie hat gerade in der Chirurgie wesentlich zur Entwicklung dieses Fachgebiets beigetragen. Doch der Fortschritt ist so rasant, es wird zunehmend schwierig, den Überblick zu behalten, um zu prüfen, was brauchbar ist und wovon man lieber die Finger lassen sollte.
Ein gutes Beispiel war die Laserchirurgie Mitte der 1990er-Jahre. Das Marketing der Industrie und der Kliniken, die Laser nutzten, war massiv: Diejenigen Kliniken, die keine Laserchirurgie anboten, wurden als altmodisch taxiert. Doch der Laser verschwand nach ein Paar Jahren sang- und klanglos, weil niemand nachweisen konnte, weshalb es die Lasertechnologie brauchen soll.
Dazu braucht es viel Literaturstudium und Diskussionen im Team. Das pflegen wir am Inselspital ausserordentlich: Es ist eine unserer Stärken. Wir informieren uns an Kongressen, tauschen Informationen und Erfahrungen aus. Aber auch das ist noch keine Garantie dafür, dass man immer richtig liegt. Ob die Entscheidung, eine Innovation zu verfolgen, klug war, sieht man oft erst Jahre später.
Kosten sind heute ein wichtiges Thema. Der Arzt muss überzeugt sein, dass das, was angeboten wird, einen positiven Effekt hat, dass die Kosteneffizienz berücksichtigt ist und dass der Patient lange vom Verfahren profitieren wird. Das kann heute viel besser dokumentiert werden als vor 25 Jahren. Wichtig sind diese Fragen auch deshalb, weil wir immer mehr mit fragileren, das heisst, älteren Menschen zu tun haben. Die kostspieligen Prozeduren müssen noch besser vorbereitet und durchdacht sein.
In den letzten 25 Jahren hat es sich um rund 10 bis 15 Jahre erhöht. Früher galt ein 65-jähriger Patient schon als alt. Heute gilt dies für 80-jährige.
Die Anzahl der 40- bis 60-jährigen Patienten hat nicht abgenommen, auch wenn man heute besser Bescheid weiss über Vorbeugung und Nachsorge nach einem ersten Ereignis, also einem Infarkt, Stent oder einer Bypassoperation. Doch heute sind unsere Patienten bei der ersten Operation im Durchschnitt älter, da Medikamente oder Kathetereingriffe den Zeitpunkt einer Herzoperation hinausschieben können. Und da wir ja heutzutage länger leben als früher, werden auch die Herz-Kreislauf-Patienten immer älter.
Die Risikofaktoren gelten für beide Geschlechter. Auch gibt es keinen Unterschied im Behandlungsangebot. Bei der Frau kommt aber mit der Menopause ein zusätzliches Risiko hinzu, wegen der Schwankung der weiblichen Hormone. Die Herzkranzgefässe der Frauen sind zudem oft kleiner. Dadurch wird eine Ablagerung schneller relevant. Bei den 40- bis 60-Jährigen sind mehr Männer betroffen, zwischen 60 und 80 gleicht sich das aus.
Prävention ist ein Puzzlestein im Ganzen. Genügend Bewegung, gesunde Ernährung, kein Nikotin und möglichst kein Übergewicht – dies muss allerdings schon mit 20 bis 30 Jahren beginnen, nicht erst mit 60.
Sicher, je älter der Patient, umso schonender sollte der Eingriff sein. Kleinere Schnitte, die miniaturisierte Herz-Lungen-Maschine und schnelle Operations- oder Katheterverfahren: Das sind wichtige Strategien. Etwas paradox ist die Situation bei den Herzklappeneingriffen: Ausgerechnet die ältesten Patienten, die die kürzeste Lebenserwartung haben, profitieren hier von den teuersten Verfahren, den Katheterklappen. Eigentlich müssten ja die teuersten Verfahren bei Kindern und Jugendlichen angewendet werden.
Klappeneingriffe sind bei jüngeren Patienten verhältnismässig selten. Da lohnt sich die Forschung und die Entwicklung von innovativen Produkten wenig. Das ist eine traurige Realität der freien Marktwirtschaft. Für eine kleinere Gruppe von Patienten wird wenig umgesetzt: Bei den älteren Patienten gibt es einen riesigen Markt, daher auch viele Angebote.
Ja, ich bin überzeugt, dass vieles auf uns zukommen wird, woran wir heute noch gar nicht mal denken. Bio-Wissenschaftler, Ingenieure und Informatiker sind sehr aktiv im Gesundheitsbereich, denn der Gesundheitsmarkt ist lukrativ. Man überlegt etwa, wie man Organe oder Teile davon züchten könnte. Ein grosses Forschungsfeld ist auch das Verständnis über das Erbgut. Hier liegt viel Potenzial, zum Beispiel für die personalisierte Medizin. Doch muss man auch die Gefahren berücksichtigen.
Will man aus dem Erbgut wichtige Informationen gewinnen und verwerten können, braucht es viele Daten. Und wer über viele Daten verfügt, muss sich Gedanken über den Schutz dieser Daten machen. Dadurch würde eine massgeschneiderte Medizin für viele Krankheiten ermöglicht, Tumorerkrankungen, Bluthochdruck als Beispiel. Die Prävention könnte auch davon profitieren.
Genau. Stellen Sie sich vor, man könnte Krankheiten, die durch Gendefekte entstanden sind oder entstehen werden, behandeln, bevor sie Schäden angerichtet haben. Das ist faszinierend. Auch Herz-Kreislauf-Probleme sind ja häufig familiär veranlagt. Das wäre eine komplett neue Möglichkeit in der Medizin. Auch von der Forschungsperspektive wäre dies äusserst interessant.
Gemessen an der Grösse der Bevölkerung ist der Output der fünf Universitäten und der Technischen Hochschulen mit wertvollen Publikationen überdurchschnittlich hoch. Viel höher als zum Beispiel in den USA. Was Erfindungen und Patente betrifft, sind wir sehr gut positioniert, gerade auch in der Pharma-Forschung. Unsere starke Vernetzung schafft ideale Voraussetzungen für erfolgreiche Forschung und weltweit beachtete Innovationen.
Zum Beispiel die Erfindung des Ballonkatheters 1977 durch Andreas Grüntzig in Zürich. Oder die erste Herztransplantation durch Åke Senning, die 1969 am Universitätsspital Zürich durchgeführt wurde. Oder die Erfindung des Cyclosporins – das bei Transplantationen verwendet wird, um Abstossungen zu vermeiden – Anfang der 1970er-Jahre bei Sandoz durch Jean-François Borel und sein Team. Viele renommierte Ärzte finden hierzulande das ideale Umfeld für ihre Arbeit und Forschung, denn das Niveau in der Medizin ist sehr hoch. Doch der Erfolg in der Herz-Kreislauf-Medizin führt auch dazu, dass man die Krankheiten ein bisschen auf die leichte Schulter nimmt, nach dem Motto: Ich muss mich nicht bemühen; wenn ich einmal krank bin, gibt es ja sehr gute Lösungen.
Man geht heute schon fast davon aus, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen immer heilbar sind. Das stimmt auch zum grossen Teil: Ein Infarkt kann heute gut behandelt werden, Operationen erlauben eine neue, in der Regel beschwerdefreie Lebensphase. Doch eine erfolgreiche Herzoperation ist nur der Anfang. Das Danach ist auch ein wichtiger Faktor.
Ja, eine Behandlung macht nur Sinn, wenn sie eine positive Nachwirkung hat. Weil die Behandlung heute aber so normal und einfach geworden ist, haben einzelne Patienten das Gefühl, ein bisschen Kalk in den Gefässen sei wie Zahnstein. Man kommt einfach wieder zur nächsten Operation, wenn es wieder nötig ist. Doch die Eigenverantwortung ist ein wichtiger Teil der Nachbehandlung: Darum muss sich jeder Patient bemühen: Wer zum Beispiel sofort mit Rauchen aufhört, steht rasch im gleichen Risikobereich wie ein Nichtraucher.
Gute Frage, denn diese Faktoren kann man nicht einfach messen und sagen, was sie auslösen. Einen Einfluss auf unsere Gesundheit haben Stressfaktoren sicher. Doch positiven Stress brauchen wir wiederum, um produktiv und vielleicht auch glücklich zu sein.
Ja, ich arbeite sehr viel. Doch wo die Grenzen sind, bestimme ich selber. Das ist wichtig. Ich bestimme, wie viele Referate ich halte oder an wie vielen Projekten ich beteiligt bin. Aus diesen Tätigkeiten schöpfe ich positive Kraft. Zudem gönne ich mir auch bewusst kurze Auszeiten.
Ich habe lange Zeit wenig Sport gemacht und fast alles für die Arbeit geopfert. Doch ich sah ein, dass das so nicht weitergeht. Schliesslich gehört es für mich zur Glaubwürdigkeit, meinen Patienten nicht nur zu predigen, dass sie sich gesund verhalten sollen, sondern dies auch vorzuleben. Dank gesunder Ernährung und Sport habe ich 25 Kilogramm abgenommen. Ich mache auch alle paar Jahre einen Check-up. Ich will ein Vorbild sein, was die Prävention angeht, nicht nur den Patienten, auch meinem Team.
Sehr wichtig. Die Klinik lebt schliesslich nicht von mir allein. Ich bin auch immer wieder stolz auf den Ärztenachwuchs, der unseren positiven Teamgeist und die Erfahrungen weiterträgt. Wir haben in Bern die grösste Anzahl an Herzchirurgen in den letzten 15 Jahren ausgebildet: Einzelne Kollegen haben eine Chefarztstelle an einem Universitätsspital erreicht – so in Basel und Genf –, andere sind an einer Hirslanden Klinik tätig. Auch an Kongressen tausche ich mich gerne mit Kollegen aus und bespreche spezielle Operationstechniken mit Kollegen aus dem Ausland.
Es kommt relativ selten vor: Aber eine andere Sicht kann wertvoll sein. Problematisch wird es, wenn der Patient von mehreren Ärzten verschiedene Meinungen hört und dann das Vertrauen verliert. Deshalb nehme ich mir auch gerne genügend Zeit für meine Patienten, um über ihre Zweifel oder Ängste zu sprechen.
Herzkranke Patienten leiden nicht selten auch an nicht körperlichen Beschwerden. Die Kardiopsychologie ist deshalb bei uns ein wichtiger Teil der Behandlung. Patienten, die auf ein Spenderherz warten, können psychisch leiden, denn sie leben in einer grossen Unsicherheit. Sie fragen sich, ob sie bis zur Operation überhaupt noch leben, ob jemals ein passendes Herz gefunden wird. Und danach fragen sie sich, wem wohl ihr Herz gehört hat. Da braucht es psychologische Unterstützung. Oder auch wenn ein Mensch einen Herzstillstand überlebt und dann mit einem Schnitt in der Brust im Spitalbett aufwacht und nicht weiss, was passiert ist. Das kann sehr belastend sein. Deshalb hört unsere Arbeit nicht nach der Operation auf.
Der 56-jährige Fribourger ist seit 1999 ordentlicher Professor und Direktor der Herz- und Gefässchirurgie des Inselspitals Bern und seit 2014 Co-Chefarzt der Herzchirurgie an der Hirslanden Klinik Aarau. Im November 2015 erhielt er für seine langjährige Forschung und seine humanitären Einsätze die Ehrendoktorwürde der Universität Freiburg.