Querschnittlähmung: Paraplegie und Tetraplegie

Was ist eine Querschnittlähmung und welche Auswirkungen hat sie für die Betroffenen? Die wichtigsten Infos dazu. Zudem gibt Karl Emmenegger einen ehrlichen Einblick in sein Leben im Rollstuhl.

27.05.2021 Olivia Goricanec 5 Minuten

Karl Emmenegger, 69 Jahre, aus dem Raum Luzern 

Von einem Moment auf den anderen nicht mehr gehen zu können, seine Beine und teils auch Arme nicht mehr einsetzen und spüren zu können, ist ein einschneidendes Erlebnis. Plötzlich ist da ein Rollstuhl, mit dem man umgehen muss. Im Alltag ist man mit Unannehmlichkeiten wie unüberwindbaren Stufen oder unerreichbaren Einkaufsregalen konfrontiert. Und die Auswirkungen auf das Privat- und Berufsleben sind immens. Das ist aber alles nur eine Seite des Lebens eines querschnittgelähmten Menschen. Die damit verbundenen gesundheitlichen Folgen ist die andere. 

Was ist eine Querschnittlähmung?

Das Gehirn kann als eine Art «Schaltzentrale» unseres Körpers verstanden werden. Via Rückenmark steuert es unseren Körper; unsere Arme und Beine sowie die inneren Prozesse wie Atmung, Kreislauf und Verdauung. Ist das Rückenmark beschädigt, funktioniert die Informationsübertragung zwischen Gehirn und Körper nicht mehr oder nur noch teilweise. Das Gehirn sendet ein Signal, das dann an der verletzten Stelle im Rückenmark «hängenbleibt» und nicht weitergleitet wird.

Die Folge: Beine und teils auch Arme sind gelähmt. Je nach Höhe der Verletzung sind die Auswirkungen unterschiedlich. Über die gesamte Länge des Rückenmarks laufen Spinalnerven durch die kleinen Zwischenräume zwischen den einzelnen Rückenwirbeln. Die Spinalnerven, die die Arme und Hände ansteuern, entspringen dem Halswirbelbereich. Diejenigen, die die Beine (und auch Blase, Darm und Genitalien) ansteuern, verlaufen aus bestimmten Wirbeln im Lenden- und Kreuzbeinbereich. Neben den sichtbaren Bewegungseinschränkungen und Lähmungen können – je nach Höhe der Schädigung des Rückenmarks – viele weitere Folge- und Begleiterkrankungen eintreten. Je höher die Verletzung, je mehr Bereiche und Funktionen im Körper sind betroffen. 

Ursachen für Querschnittlähmung

Das Rückenmark kann durch Verletzungen der Wirbelsäule geschädigt werden. Aber auch Krankheiten wie Tumore, Infektionen oder Blutungen können dafür verantwortlich sein. In seltenen Fällen kann eine Querschnittlähmung angeboren sein, zum Beispiel bei Spina bifida – auch als offener Rücken bekannt. 

Viele kommen bei einem Sportunfall, einem Sturz von der Leiter oder einem Motorradunfall mit einem Schrecken davon. Für andere beginnt ein schwerer Weg. Vor 42 Jahren erlitt Karl Emmenegger ein solches Schicksal. Ein Unfall auf der Strasse krempelte sein Leben von einer Sekunde auf die andere völlig um:

«Ein Sekundenschlaf während des Autofahrens hat mein Leben verändert. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt, Kunstflieger, Nati-A-Handballer, studierte Maschineningenieur und auf einen Schlag vom zwölften Rückenwirbel an abwärts gelähmt.»

Arten von Querschnittlähmungen: Paraplegie und Tetraplegie

Paraplegie

Bei Paraplegikerinnen und Paraplegikern ist die untere Körperhälfte von der Querschnittlähmung betroffen. Die Beine, das Gesäss sowie der Bauch- und unterer Brustbereich sind gelähmt – je nachdem auf welcher Höhe die Lähmung ist. Die Rückenmarksverletzung hat im Brustwirbel-, Lendenwirbel oder im Bereich des Kreuzbeins stattgefunden. Menschen mit Paraplegie können ihre Arme ohne Einschränkungen bewegen, auch ihre Atemmuskulatur funktioniert meistens einwandfrei.

Tetraplegie

Anders als bei der Paraplegie betrifft die Lähmung bei Menschen mit Tetraplegie nicht nur die Beine und den Rumpf, sondern auch die Arme und Hände. Die Schädigung des Rückenmarks liegt im Bereich der Halswirbelsäule. Je nach Höhe der Verletzung kann der oder die Betroffene die Arme noch etwas bewegen. Bei Tetraplegikerinnen und Tetraplegikern ist auch die Atemmuskulatur mitbetroffen. Je nachdem muss die betroffene Person künstlich beatmet werden. Zudem kann auch die Regulation des Kreislaufs gestört sein.

«Ich wusste bereits im jungen Alter, dass ich Vater werden wollte. Durch meinen Unfall war mein sexuelles Nervensystem zerstört. Ich konnte keine Samen mehr produzieren und somit auch keine Kinder zeugen. Das war grausam.»

Bei Menschen mit Querschnittlähmung ist fast immer die Funktion von Blase, Darm und Sexualität gestört. Der Grund: Die dafür zuständigen Nerven verlaufen vom Gehirn durch das Rückenmark bis ganz unten in den Bereich des Kreuzbeins. Die Störung der Sexualfunktion und der Fortpflanzungsfähigkeit betrifft Männer. Heute kann deshalb bei Kinderwunsch eine Samenentnahme erfolgen. Frauen können auch mit einer Querschnittlähmung ein Kind empfangen und austragen. 

«Unter meiner fehlenden Sexualität habe ich gelitten. Das war für mich lange Zeit der Horror und hat mich fast verrissen. Ich musste knapp fünfzig Jahre alt werden, um meine Männlichkeit neu zu finden. Damals lernte ich meine heutige Frau kennen.»

Paraplegikerinnen und Tetraplegiker müssen lernen, auch mit weiteren indirekten Folgen einer Querschnittlähmung umzugehen. Zum Beispiel Druckgeschwüren, also unbemerkte Druckstellen, die nicht mehr durchblutet sind. Oder unkontrollierbare, meist schmerzhafte Muskelverkrampfungen, sogenannte Spastiken. Sie entstehen, weil im Rückenmark die Nervenverbindung vom Gehirn unterbrochen ist, die für die Feinsteuerung im Gehirn verantwortlich ist.  

«Ich habe enormes Glück mit meinem Körper. Ich litt zum Beispiel nie unter Phantomschmerzen oder Druckstellen. Auch hatte ich als Spitzensportler einen sehr gut trainierten Körper. Es ist sehr wichtig, dass ich mein Gewicht halte. Das Körpergewicht darf nicht auf meine Gelenke schlagen. Ausserdem ist ein gutes Darm-Management entscheidend. Natürlich esse ich zwischendurch ein Schnitzel und Pommes – muss dann daraus jedoch die Konsequenzen ziehen.»

Komplette und inkomplette Querschnittlähmung

Kann eine Person mit Paraplegie oder Tetraplegie Arme und Beine weder bewegen noch spüren, spricht man von einer kompletten Querschnittlähmung. Entweder wurde das Rückenmark an der verletzten Stelle komplett durchtrennt. Oder Schwellungen und eine schlechte Durchblutung haben zu einem kompletten Ausfall der Funktionen geführt. 

Bei einer inkompletten Paraplegie oder inkompletten Tetraplegie hingegen können betroffene Menschen Druck oder Schmerz unterhalb des geschädigten Rückenmarks noch immer empfinden und ihre Beine und Arme etwas bewegen.

«Der verletzte Wirbel war leider nur gequetscht und nicht gebrochen, was die Behandlung um einiges komplexer machte. Heute würde man operieren, damals wagte man es noch nicht. Stattdessen hängte man mir während zwei Monaten Gewichte an Kopf und Beine. Die Ärzte versuchten so, den gequetschten Wirbel wieder aufzurichten, was aber nicht komplett gelang. Es war eine Tortur.»

Einschnitt und Auswirkungen im Leben

Eine Querschnittlähmung verändert das gesamte Dasein der betroffenen Person. Sie kann nicht mehr gehen, ihre Arme je nachdem nicht mehr benutzen – und muss lernen mit den vielen Folge- und Begleiterkrankungen zu leben. 

Früher war eine Querschnittlähmung mit einer hohen Sterblichkeitsrate verbunden. Paraplegiker und Tetraplegikerinnen starben häufig an Nierenleiden, verursacht durch den Rückstau von Urin und Harnwegsinfekten. 

Heute ist die Sterblichkeitsrate zum Glück stark gesunken. Dank der heutigen, innovativen Operationstechniken, der besseren medizinischen und chirurgischen Versorgung und Rehabilitation kann ein Mensch mit Querschnittlähmung in der Schweiz nicht nur länger leben, sondern auch ein erfülltes und produktives Leben führen. Auch der Umgang mit Menschen mit Behinderung hat sich in den letzten Jahrzehnten positiv verändert. Betroffene Menschen sind heute besser akzeptiert und integriert, beruflich wie sozial. 

«Nach dem Unfall musste ich mich beruflich neu orientieren. Ich hatte nicht vor, von der IV zu leben. Doch Menschen wie ich, die ihr Leben neu aufbauen wollten, wurden damals zu wenig unterstützt. In der Reha wurde ich nur oberflächlich beraten. Der Begriff Karriere existierte im IV-Gesetz schon gar nicht. In der Reha hatte ich den Arzt Guido Zäch kennengelernt. Als er 1989 das Paraplegiker-Zentrum Nottwil plante, erzählte ich ihm, dass man die Berufsberatung für uns Rollstuhlfahrer verbessern müsse, und entwickelte ein Konzept. Er machte mich daraufhin kurzerhand zum Chef Berufsbildung seines neuen Zentrums. Dabei war ich gar kein Berufsberater! Doch Zäch ermutigte mich, einer zu werden. Es war ein Glück, dass ich diese Ausbildung machen konnte. Die folgenden fünfundzwanzig Jahre wurden eine tolle Zeit. Bis zu meiner Pensionierung betreute ich rund zweitausend Menschen. Ich konnte immer wieder sehen, welche unglaublichen Ressourcen wir Menschen haben. Wichtig dabei ist: Um eine Situation verändern zu können, muss man daran glauben und eine Vision von der Zukunft haben. Als Paraplegiker habe ich in all den Jahren enorme gesellschaftliche Fortschritte miterlebt. Die Gesellschaft gibt uns heute eine Chance. Ich bin riesig stolz darauf, einen kleinen Teil dazu beigetragen zu haben. Rückblickend kann ich sagen: Ich habe ein absolut fantastisches Leben gehabt.»

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